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Ungleichheit

Ganz allein hier: So geht es unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Ganz allein hier: So geht es unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
Wie es ist, ganz alleine in ein unbekanntes Land und Leben zu gehen - davon berichtet der 17-jährige Sabi. Symbolbild: Arthur Brognoli/Pexels
Sabi ist 17 Jahre alt und aus Afghanistan nach Österreich geflüchtet. Jugendliche Flüchtlinge kommen medial oft nur dann vor, wenn etwas passiert. Ihre Perspektive hört und liest man nur selten. Dabei haben sie viel zu berichten.

„Ich bin seit acht Jahren alleine, seit vier Jahren in Österreich“, erzählt Sabi. Heute sitzt er gut gelaunt vor einer Wohngemeinschaft der Caritas für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) irgendwo in Wien. Die Mittelschule hat er abgeschlossen, er besucht die Fachschule für Sozialberufe. Den Sommer über arbeitet er in einem Einzelhandelsgeschäft. In seiner Freizeit geht er Thaiboxen oder ins Schwimmbad. Dort ist er auch, um Rettungsschwimmer zu werden.

Wie Sabi haben alle unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten – jene, die ohne Eltern herkommen – eine eigene Geschichte, erzählt die Betreuerin und Leiterin der Wohngemeinschaft, Andrea Qorbanzada. Sabi nickt zustimmend.

2024 wurden bisher 277 Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen gestellt. Sie kommen wie Sabi alleine nach Österreich. Ihre Situation ist besonders herausfordernd.

Der Gewalt entkommen

Sabi lässt auf eigenen Antrieb hin seine Fluchtgeschichte immer wieder durchblitzen. Er ist aus Afghanistan zu Fuß durch mehrere Länder geflüchtet. Im Iran würden Afghanen „dumm und deppad geschlagen“, wie er auf Wienerisch illustriert. In Istanbul habe er erlebt, dass sogar die Polizei mit Schlagstöcken Prügel verteilt. An der Grenze zu Bulgarien habe er mitansehen müssen, wie Menschen sterben. Er berichtet von Schüssen und dass die Flüchtlinge nackt in den Wald und ins Meer geschickt werden.

All diese Bilder im Kopf und die Erlebnisse müssen erst einmal verarbeitet werden. Betreuerin Andrea wirbt nicht zuletzt deshalb für Verständnis. In Kombination mit der Fluchterfahrung ist es für die jungen Menschen oft schwierig, in einem „normalen“ Alltag anzukommen. Und es sei noch bewundernswerter, wenn Geflüchtete später sogar als Ärzt:in oder Bankangestellte arbeiten, ist Sabi beeindruckt.

Mehr Zeit für die Jugendlichen

Andrea arbeitet seit 2016 in der Flüchtlingsbetreuung. Seit rund zwei Jahren ist sie Leiterin der Wohngemeinschaft, in der Sabi lebt. Das Besondere an dieser WG: Es leben Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund und österreichische Kinder zusammen. Das ermöglicht höhere Tagsätze und eine bessere Betreuungssituation. Ihr Eindruck ist, dass ein Großteil der Jugendlichen, die sie und ihr Team in der WG betreuen, letztendlich gut ankommen und auch in Folge den Weg in ein geregeltes Leben schaffen.

”Je besser man unterstützt, desto mehr Zukunftschancen gibt es”

Bevor sie in die Obsorge der Länder kommen, werden die Jugendlichen in Erstaufnahmezentren des Bundes untergebracht. Dort sind sie, oft ohne adäquate Betreuung, lange Zeit auf sich alleine gestellt. “Je früher wir mit den Kindern arbeiten können, desto leichter tun sie sich. Wenn sie dann zugewiesen werden, finden sie sich schnell ein. Schon nach drei bis sechs Monaten kann man beispielsweise Alltagsgespräche auf Deutsch führen”, macht die Expertin deutlich. Aber es bräuchte gerade am Anfang mehr Zeit und direkten Bezug. Etwa, um Kinder in der Schule oder den Deutschkursen zu begleiten. Das ist in herkömmlichen umF-WGs oft nicht möglich.

„Je besser man unterstützt, desto mehr Zukunftschancen gibt es“, sagt sie, „Wir könnten mehr tun, wenn wir mehr Zeit hätten, weil Beziehungsarbeit zu Vertrauen führt. Und das braucht es.“ Überforderung bei den Betreuer:innen hat sie auch in den Zeiten nach 2015 kaum festgestellt. „Wir bewegen uns in dem finanziellen Rahmen, der uns zur Verfügung gestellt wird“, weicht sie etwas aus. Klar stoße man manchmal an Grenzen, aber im Großen und Ganzen sei man auch durch diese Zeiten gut durchgekommen.

Probleme ansprechen

Dass es manchmal Herausforderungen gibt, sich an eine neue Umgebung, Gesellschaft und Normen zu gewöhnen, das ist nachvollziehbar. Gerade, wenn Menschen in einem streng religiösen Umfeld aufgewachsen sind. Doch genau vor diesem Extremismus fliehen eben auch viele. Und die meisten wollen einfach nur ein gutes Leben.

Auch Sabi denkt, dass man sich an die Regeln halten soll – egal, ob aus Österreich, Afghanistan oder sonst woher. Seine Betreuerin meint: „In unserer Arbeit sehen wir, dass ein überwiegender Teil der jungen Menschen so wie Sabi ihr Bestes geben, um sich einzubringen und etwas aus ihrem Leben zu machen. Unserer Erfahrung nach sind die Beispiele, die wir in der Zeitung lesen, die Ausnahme.“

Das zeigt auch die Statistik. Flüchtlinge werden nicht öfter straffällig als andere Bevölkerungsgruppen. Statistisches Artefakt nennt das die Fachsprache, wie eine Untersuchung einmal ergab. Rechnet man Faktoren wie Alter, Geschlecht und sozialen Status ein, sieht man, dass Kriminalität nichts mit der Herkunft zu tun hat.

Völlig verzerrtes Bild in den Medien

Mehrmals im Gespräch macht Sabi auch seinem Ärger über die Berichterstattung Luft. „Die Medien schreiben nur über uns, wenn irgendwer etwas Schlimmes gemacht hat, aber es gibt überall gute und schlechte Menschen. Wenn ein Afghane etwas falsch macht, sind gleich alle anderen Afghanen auch böse. Das nervt mich. Ich bin ein anderer Mensch“, meint er.

Die Auswirkungen der negativen Berichterstattung spüre er auch im Alltag. Wenn er nach einem medialen Vorfall einkaufen geht, werde er oftmals schief angeschaut. Andere werden auch beschimpft oder bedrängt. Darum wünscht sich Sabi manchmal, dass Medien die Herkunft der Täter nicht nennen. Das war auch lange Zeit so. 2017 wurde die entsprechende Richtlinie des deutschen Pressekodex überarbeitet. Sie besagt aber immer noch: Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht begründetes öffentliches Interesse. Die Berichterstattung über Straftaten soll zu keiner diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens und Vorurteilen gegenüber Minderheiten führen.

Auch die Dauer der medialen Aufgeregtheit empfindet Sabi unterschiedlich: „Letztes Jahr hat ein Polizist einen anderen erschossen, da gab es nur kurz Berichte, über ‚uns‘ wird tagelang geschrieben.“ Über die vielen positiven Beispiele geflüchteter Menschen liest er hingegen nie etwas, ärgert er sich.

In der Öffentlichkeit entsteht aus seiner Sicht ein verzerrtes Bild. Das betrifft in weiterer Folge auch die nun wieder möglichen Abschiebungen nach Afghanistan. Hierzulande habe man keine Vorstellung, wie es in dem Land zugeht. „Dort ist Krieg. Was sollte ich in Afghanistan, wenn man mich abschiebt?“

Bevor er nach Österreich kam, hat Sabi keine Schule von innen gesehen. Wäre er ein Mädchen, hätte er gar keine Chance, auf eine Schule zu gehen. Die Taliban verbieten Mädchen den Schulbesuch. „Wo sollen die Ärztinnen herkommen, wenn sie nicht einmal in die Schule gehen können?“

Muss man nur wollen?

Wie schwierig es ohne Familie ist, schildert Sabi an einem Beispiel: „Ich hatte neulich eine Blinddarmoperation. Neben mir war ein österreichisches Kind, die Mama ist jeden Tag gekommen. Die Betreuer haben nicht so viel Zeit. Ich war krank und viel alleine, musste viel weinen.“

Nun freut er sich darauf, dass seine Familie hoffentlich bald auch in Österreich ist. Und dann wird das eintreten, was Andrea schon oft registriert hat: Dass Sabi mit ein bisschen „Verspätung“ in ein „normales“ Leben findet. So wie viele andere “Kids”, die sie in den letzten acht Jahren betreut hat.

„Man muss die Sachen nur wollen. Einfach ist im Leben sowieso nichts“, lacht er. Schwerer, als es ohnehin schon ist, müsste Österreich es den Kids aber auch nicht machen.

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