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Ungleichheit
Demokratie

Großbritannien zeigt: Die Kürzung von Sozialleistungen führt zu mehr Armut

Großbritannien zeigt: Die Kürzung von Sozialleistungen führt zu mehr Armut
Wer Sozialleistungen für Familien deckeln will, verschärft vor allem die Armutsgefährdung von Kindern. Das hat auch Großbritannien vorgezeigt.
Erhalten arme Menschen weniger Geld, suchen sie sich eher Arbeit. So die Theorie. Was aber tatsächlich passiert, wenn man Familien wichtige Leistungen kürzt, hat Großbritannien gezeigt.

Wieder einmal trommeln Parteien rechts der Mitte und Boulevardmedien gegen Sozialleistungen. In der Abneigung von armen Menschen und Migrant:innen vereint, wird über die zu hohe Sozialhilfe einer syrischen Familie gestritten. Die 4.600 Euro für eine neunköpfige Familie beschäftigt die Berichterstattung immer noch, Kürzungen werden gefordert. Besonders für Familien mit mehreren Kindern.

Worüber bisher kaum gesprochen wurde: Was würden solche Kürzungen eigentlich bringen? Die Annahme ist, dass sich viele Betroffene auf den “hohen” Leistungen ausruhen. Gibt man ihnen weniger, suchen sie sich schneller Arbeit. Soweit die Theorie.

Der Praxis hält die Theorie, wie so oft, allerdings nicht stand.

„Benefit Caps“ in Großbritannien

Das zeigt ein Blick nach Großbritannien. Dort haben konservative Regierungen im vergangenen Jahrzehnt Maßnahmen umgesetzt, die auch in Österreich immer wieder diskutiert werden.

2013 hat die Regierung unter Premierminister David Cameron einen “benefit cap” eingeführt. Sozialleistungen für Haushalte, in denen Erwachsene nicht erwerbstätig sind, wurden bei einem bestimmten Betrag gedeckelt. Der liegt aktuell bei knapp 25.600 Euro (22.000 Pfund) im Jahr. 2022 waren 112.000 Haushalte davon betroffen. Mehr als zwei Drittel davon sind Alleinerzieher:innen.

Aber nicht nur das. Großbritannien deckelt doppelt. 2017 hat Theresa May einen zusätzlichen Deckel für Familienleistungen bei Menschen mit niedrigem Einkommen oder in Arbeitslosigkeit eingeführt. Mit dem “two-child benefit cap” gibt es nur mehr für die ersten beiden Kinder einen Kinderabsetzbetrag. Bei jedem weiteren Kind entfallen den Eltern bis zu 370 Euro (315 Pfund) im Monat. Das betrifft mittlerweile 1,6 Millionen Kinder. Übrigens: Wer durch eine Vergewaltigung ein Kind bekommt, ist von der Regelung ausgenommen.

Die Deckel wurden mit dem Argument eingeführt, dass die Erwerbsarbeit dadurch steigen würde. In sechs von zehn Familien, die von dem Deckel betroffen sind, arbeitete aber zumindest ein Elternteil ohnehin schon. Eine Studie der London School of Economics zeigt: Der “benefit cap” hatte keine Auswirkungen auf die Erwerbsarbeit.

Ein Grund dafür: Irgendjemand muss auf die Kinder schauen. Wer mehrere Kinder und wenig Geld hat, kann sich externe Kinderbetreuung nicht leisten. Ein Problem, vor dem auch in Österreich viele Familien stehen.

Armutsgefährdung steigt wegen niedriger Sozialleistungen

Laut der Studie gibt es noch einen weiteren Grund, dass die Arbeit nicht gestiegen ist: Ärmeren Familien Unterstützung zu streichen, führt zu höherem finanziellen Druck. Wer sich ständig überlegen muss, wie man den Alltag bestreiten kann, leidet psychisch darunter. Das macht Menschen weniger belastbar und kann Eltern von bezahlter Beschäftigung abhalten.

Das offizielle Ziel der Maßnahme – Menschen in die Erwerbsarbeit zu bringen – wurde in Großbritannien nicht erreicht. Dafür hatte der Deckel andere Auswirkungen, die allerdings nicht erwünscht waren.

Die Armutsgefährdung bei Kindern ist seit Einführung des Deckels besonders in Familien mit mehr als zwei Kindern angestiegen. Das ist kein Zufall. Der “two-child benefit cap” gilt als stärkster Treiber von Kinderarmut in Großbritannien. Laut der britischen Organisation gegen Kinderarmut “Child Poverty Action Group” könnten 300.000 Kinder sehr schnell aus der Armutsgefährdung gehoben werden, wenn man die Deckelungen endlich abschaffen würde. 700.000 wären zumindest nicht mehr von extremer Armut betroffen.

Auch in Österreich keine Lösung

Die Idee, dass Menschen sich eher Arbeit suchen, wenn sie weniger Unterstützung erhalten, ist auch in Österreich beliebt. Es ist aber eine Idee, die sich in der Praxis nicht bewahrheiten würde.

Das zeigt sich etwa bei arbeitslosen Menschen: 95 Prozent der Betroffenen suchen aktiv nach Beschäftigung. Und in der Sozialhilfe sind fast drei Viertel der Haushalte “Aufstocker”. Das heißt, dass sie arbeiten, aber trotzdem zu wenig Geld verdienen, um den Alltag bestreiten zu können. Sie erhalten eine Aufstockung.

Die Menschen sind nicht faul, sie brauchen Unterstützung

Das Beispiel aus Großbritannien zeigt: Menschen, die Sozialleistungen erhalten, sind nicht “faul” oder vermeiden es, sich Arbeit zu suchen. Will man ihre Situation tatsächlich verbessern und sie vor Armut schützen, muss man notwendige Strukturen schaffen. Etwa Kinderbetreuung ausbauen und billiger machen oder mehr Weiterbildungs- und Integrationsmöglichkeiten schaffen.

Doch das ist politisch unerwünscht. Stattdessen wird über Kürzungen und Schikanen bei denen diskutiert, die am meisten zu kämpfen haben. Und nicht bei denen, die es kaum spüren würden.

 

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    Kommentare 1 Kommentar
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  • frizzdog
    16.08.2024
    und wer sagt denn, dass armut politisch wirklich unerwünscht ist? ist die entkoppelung von moral und geld inicht geradezu die DNA des kapitalismus?
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