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Ungleichheit
Demokratie

Die leidige Mindestsicherungsdebatte und ein paar unangenehme Wahrheiten

Die leidige Mindestsicherungsdebatte und ein paar unangenehme Wahrheiten
Warum die Debatte um die aktuelle Debatte um die Mindestsicherung realitätsfern und nicht lösungsorientiert ist, analysiert Natascha Strobl. Symbolfoto: Alisa Dyson, Pixabay
Seit Wochen führt Österreich eine Debatte über die Mindestsicherung, die realitätsfern ist und nichts mit Lösungen zu tun hat. Aber mit den bevorstehenden Wahlen, analysiert Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl.

Pünktlich vor der Wahl gibt es wieder einmal eine Mindestsicherungsdebatte gepaart mit einer Ausländerdebatte gepaart mit einer “die sind alle faul und wollen nicht arbeiten”-Debatte. Es ist die x-te Runde und die Debattenbeiträge der wohlsituierten Meinungsmacher entfernen sich immer weiter von der Realität. Fünf Wahrheiten, die von den Initiatoren dieser Debatten nicht gerne gehört werden.

1. Eltern mit vielen Kindern werden nie zwei Vollzeiteinkommen haben

Wie realitätsfern die Debatte ist, zeigt sich daran, dass die Mindestsicherung mit zwei Vollzeiteinkommen verglichen wird. Es wäre durchaus legitim, wenn es um ein kinderloses, gesundes Paar ginge. Im vorliegenden Fall, der die Debatte auslöste und immer wieder Grundlage dafür ist, geht es um eine Familie mit 7 Kindern, mindestens die Hälfte davon wohl unter 10. Egal was wünschenswert ist, in der Realität wird diese Frau nie nebenbei arbeiten gehen. Das zeigen alle statistischen Auswertungen: Umso mehr Kinder, umso geringer die Berufstätigkeit von Frauen.

Bei den wenigen Familien mit 7 minderjährigen Kindern in Österreich kann man wohl gut und gerne davon ausgehen, dass es keine Berufstätigkeit der Mutter gibt. Ob das wünschenswert ist oder nicht, ist eine ganz andere Debatte. Bisher waren es die rechten Parteien, die Frauen mit kleinen Kindern aus dem Arbeitsmarkt raushaben wollten. Eine weitere Frage ist, wie realistisch Vollzeitarbeit mit so viel zu organisierender Haushaltsarbeit überhaupt ist.

2. Statistische Grenzfälle eignen sich nicht zur Systemsdiskussion

Bei jeder Leistung mit Grenzziehungen gibt es statistische Extremfälle. So wird es immer eine Person geben, die genau zu viel verdient, um Leistung x zu erhalten und im Endeffekt vielleicht sogar weniger hat, als die Person, die genau unter der Grenze verdient und mit Leistung x die andere Person finanziell überholt.

Aufgabe eines guten Sozialsystems ist es, diese inhärenten Ungerechtigkeiten so gering wie möglich zu halten (etwa durch Einschleifregelungen, Aufstockungen oder Abstimmungen), aber ganz verhindern wird man sie nie. Genauso wird es immer Menschen geben, die das Maximum einer sich kumulierenden Leistung erhalten. Das sind Einzelfälle und diese muss man akzeptieren, weil sie sich kaum verhindern lassen, ohne im Umkehrschluss größeren Schaden anzurichten.

3. Unvorstellbare Zahlen

Niemand derer, der die Debatte führt, weiß wie es ist, einen Alltag mit 7 Kindern zu managen. Die meisten Menschen haben null bis drei Kinder und können sich noch vorstellen, was es heißt für vier oder fünf Personen Essen zu kaufen, zu kochen, Jause zu packen und Kleidung zu kaufen, waschen und wegzuräumen. Doch eine Familie mit sieben Kindern braucht weit mehr von allem. Deswegen ist es ungerecht, das Budget einer neunköpfigen Familie mit dem eigenen kinderlosen Dasein zu vergleichen. Zumal die Mindestsicherung nur einen Teil dieses Budgets ausmacht.

Familienleistungen sind universell, das heißt, dass auch das fiktive vollzeitarbeitende Ehepaar mit sieben minderjährigen Kindern viele Familienleistungen (und sehr sicher Mietbeihilfe) und Co. erhalten würde. Ein Gesamt-Haushaltseinkommen nur mit dem Gehalt zu vergleichen funktioniert nicht.

4. Es geht gar nicht um konstruktive Lösungen

Wie die Debatte wieder aufgekommen ist, zeigt, dass es nicht um eine ehrliche Suche nach Lösungen geht. Die politischen Untertöne zeigen: Es geht um Empörung, es geht darum, progressiven Parteien zu schaden und es geht darum, Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Da wird der Datenschutz missachtet und eine Familie an den Pranger gestellt, die leicht identifizierbar ist und die nichts falsch gemacht hat. Und das von einem Vermieter.

Wie kommt man als Bürger:in eigentlich dazu, dass ein Vermieter so mit den eigenen sensiblen Daten umgehen und Daten über minderjährige Kinder veröffentlichen? Allein diese Vorgehensweise zeigt, dass es um Kulturkämpfe geht, die sich mit einem Klassenkampf von oben verbinden. Die syrische Familie ist da der perfekte “punching ball”, weil man annehmen darf, dass es keine bis wenig Sympathien für sie gibt. Das rassistische Bild der faulen Ausländer:innen wurde erfolgreich bedient. Überlegungen, wie man gerade Frauen und speziell Mütter integriert, ihnen Selbstständigkeit gibt und sie nicht ausschließt, finden erst gar nicht statt. Dasselbe gilt für Kinder, die arm und migrantisch immer nur ein Problem sind, das man am liebsten nicht hier hätte.

5. Wir lenken ab.

Die letzten Wochen und Monate ging es immer wieder um Verteilungsfragen. Hier geht es real um Gerechtigkeitsfragen und das sogar auf einem sehr niedrigen Niveau. Sehr reiche Menschen sind nach Erbschafts- und Vermögenssteuern noch immer sehr reich. Arme Menschen stehen hingegen nach Kürzung von Sozialleistungen wie der Mindestsicherung vor den Trümmern ihrer Existenz. Diese Debatte wurde nun durch die Mindestsicherungsdebatte verdrängt.

Die Frage, wie wir als Gesellschaft leben wollen und welche Leistungen wie bewertet werden, verlangt aber nach einer Frage der Verantwortung der Vermögenden und nicht nach einem Hinabtreten auf eine Familie mit vielen Kindern.

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