Corona, Propaganda und Sanktionen: Warum es im Iran so viele Infizierte gibt
Propaganda gegen das Virus
Schon zu Beginn der Pandemie witterten der religiöse Führer Ayatollah Khamenei und seine Gefolgschaft eine Verschwörung: „Die Feinde des Iran“ hätten „negative Propaganda über das Virus verbreitet“, um die Beteiligung an den Parlamentswahlen zu senken.
Der ersten Corona-Fall wurde um dem 20. Februar in der Stadt Qom registriert, die als das Epizentrum des Virus im Iran gilt. In den darauffolgenden Tagen stieg die Anzahl der Fälle rasant an. Doch die Regierung nahm das Virus überhaupt nicht ernst. „Ich werde zurücktreten, wenn die Zahlen auch nur halb, ein Viertel so hoch sind“, versprach Vizegesundheitsminister Iradsch Harirschi noch am 24. Februar. Im Video seiner Pressekonferenz ist zu sehen, wie er sich immer wieder den Schweiß von der Stirn wischt und hustet. Zwei Tage später wurde er positiv getestet.
Die für Schiiten heilige Stadt Ghom ist das Zentrum der Corona-Epidemie im Iran. Mostafa Meraji, Unsplash
Mittlerweile hat das Virus eine Reihe hoher iranischer Beamter infiziert, darunter Kabinettsminister, Parlamentsabgeordnete, Mitglieder des Korps der Islamischen Revolutionsgarden und Beamte des Gesundheitsministeriums. Ein führender Kleriker starb vor wenigen Tagen aufgrund des Coronavirus.
Die Propaganda, die den Virus anfangs als kein Problem darstellte, wirkt aber immer noch nach. Sie mindert die Bereitschaft der Bevölkerung, bei Maßnahmen zu kooperieren.
Coronavirus laut iranischer Propaganda: “Biowaffe aus den USA”
Am 12. März präsentierten iranischer Politiker die Theorie, dass die COVID-19-Pandemie im Iran das Ergebnis biologischer Kriegsführung sein könnte. Daraufhin behaupteten immer mehr Beamte, Hardliner-Kleriker und Prediger der Islamischen Republik, dass der Iran einem biologischen Angriff zum Opfer gefallen sei.
Am 14. März predigte der Imam Rasoul Falahati dass die Ausbreitung von COVID-19 das Ergebnis eines biologischen Angriffs „durch Feinde, insbesondere Amerika“ sein könnte.
Mehr Fälle, als offiziell angegeben
Außer in China sind in keinem anderen Land bislang mehr Menschen an Covid-19 gestorben als im Iran. Es wird vermutet, dass die Lage in Iran weit schlimmer ist, als die Führung in Teheran offiziell vorgibt. Die „Washington Post“ hat Satellitenaufnahmen veröffentlicht, die einen Friedhof zeigen, der südlich von Teheran offenbar für Corona-Opfer angelegt wurde. Es sollen nun auch in anderen Städten Gräber vorsichtshalber ausgehoben werden.
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Die US-Sanktionen schwächen das Gesundheitssystem zusätzlich
Laut einem Bericht der Human Rights Watch von 2019 sind aufgrund der US-Sanktionen lebenswichtige Medikamente und medizinische Ausrüstung kaum mehr finanzierbar. Der Iran kann praktisch keine medizinischen Güter auf dem internationalen Markt kaufen, weil die Banken aus Furcht vor den US-Sanktionen keine Geschäfte mit Teheran absichern wollen. Außenminister Mohammed Javad Zarif hat daraufhin in einem Schreiben an UN-Generalsekretär Antonio Guterres ein Ende der Sanktionen bis zum Ende der Corona-Krise gefordert. Gleichzeitig hat die iranische Zentralbank beim Internationalen Währungsfonds IWF eine Soforthilfe in Höhe von 4,48 Milliarden Euro beantragt. Doch zusätzlich zu den bestehenden Sanktionen, hat die US-Regierung am 19. März neue Sanktionen verhängt. Das ohnehin bereits geschwächte Gesundheitssystem dürfte das am härtesten treffen.
Die Situation in den Krankenhäusern droht zu eskalieren
Aufgrund der Untätigkeit der Behörden sind Ärzte und medizinisches Personal komplett auf sich alleine gestellt. Die steigende Zahl der Todesopfer ist ein Zeichen für den Mangel an Lieferungen, Unterstützung und Personal in den Krankenhäusern in Gilan. “Offenbar ist COVID-19 für Iranerinnen und Iraner tödlicher, weil Medikamente knapp oder gar nicht erhältlich sind und weil die Krankenhäuser unter einem gravierenden Mangel zur Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten leiden. Diese Probleme schaden den normalen Bürgerinnen und Bürgern mehr“, erzählt eine Ärztin, der iranischen Nachrichtenagentur IranWire.
Tatsächlich wurde ein Mangel an lebenswichtiger medizinischer Ausrüstung wie Kittel, Masken, Latexhandschuhe, Desinfektionsmittel, Schutzscheiben und Brillen wurde nicht nur in der Provinzhauptstadt Rasht, sondern in allen Städten in Gilan gemeldet. In einigen Krankenhäusern hat das medizinische Personal aus Protest und Frust gekündigt oder sich geweigert, seine Patienten zu behandeln, bis die notwendige medizinische Schutzkleidung zur Verfügung steht.
Es könnte bis zu 3,5 Millionen Tote geben
Es könnte also noch viel schlimmer kommen. WissenschaftlerInnen der Scharif Universität in Teheran haben verschiedene Szenarien für den weiteren Verlauf der Epidemie im Iran simuliert. Dort wird von 120.000 Infektionen und 12.000 Todesfälle gesprochen – wenn alles gut läuft und die Bevölkerung kooperiert. Tut sie das nicht, klettern die Prognosen auf 4 Millionen Fälle und bis zu 3,5 Millionen Tote.
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